Die Strandkultur, die wir heute gewohnt sind, ist gar nicht so alt, wie man meinen mag. An die Nordsee fahren, baden oder am Strand liegen, durch pittoreske Kurorte an der Küste schlendern, all das gab es nicht vor circa 1800. Das Meer war kein Ort der Ruhe und Entspannung. Viel eher war es ein unberechenbarer Gegenspieler für die Menschen, die an der Küste lebten. Erst 1855 riss zum Beispiel die Neujahrsflut Wangerooge in drei Teile, zerstörte rund ein Viertel der Häuser auf der Insel und kostete über hundert Menschen das Leben. Um 1900 boomte jedoch auch hier bereits der neue Seebadtourismus, der dem Meer ein Stück weit den Schrecken nahm und kleine Fischerdörfer zu mondänen Seebädern für die High Society machte.
Dass die Urbanisierung und das massive Anwachsen der Städte in Europa mit dieser Entwicklung zusammenfällt, ist kein Zufall, denn die Erschließung der Küsten als Erholungsort hat viel mit dem neuen Wunsch zu tun, dem Industriesmog und der lauten Stadt zumindest auf Zeit zu entkommen. Von England ausgehend verbreitete sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts auch der Glaube an die gesundheitlichen Vorteile von Seeluft und Salzwasser auf dem Kontinent. Wer es sich leisten konnte, verließ die schmutzige, laute Stadt im Sommer und verbrachte Zeit an der Küste. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wuchsen ganze Seebäder, die eigens auf Küstentourismus ausgelegt waren, entlang der europäischen Küsten heran.
Das Seebad: Ein kulturelles Phänomen
Besonders das Baden im kühlen Meerwasser wurde als Allheilmittel gegen allerlei verbreitete Leiden der Epoche verstanden, war aber natürlich zugleich ein modisches Statussymbol, denn der Kuraufenthalt am Meer war den reichsten Mitgliedern der Gesellschaft vorbehalten. Um 1850 waren Strand und Meer aber längst mehr als bloß Kur- und Heilorte. Der gute Ruf der Küste hatte den Tourismus mächtig angekurbelt und die neuen Seebäder waren zum mondänen Sommerurlaubsziel geworden, wo nicht nur gebadet wurde, sondern auch in Luxushotels gewohnt, auf Bällen getanzt, auf Yachten gesegelt und - ganz wichtig - die neuste Sommer- und Küstenmode auf der Strandpromenade und in den besten Häusern am Platz hergezeigt.
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde der Küstenurlaub allmählich günstiger und somit für immer mehr Menschen zugänglich. Besonders für das aufstrebende Bürgertum wurde er zum Muss: Wer im Sommer ans Meer fuhr, der war etwas. Auch neue Transportmöglichkeiten machten den Urlaub an der Küste erschwinglicher. Wo noch um 1800 umständlich mit Kutschen über Land oder mit Flussbooten gereist werden musste, waren die meisten Küstenorte um 1900 längst deutlich bequemer und schneller mit der Eisenbahn oder sogar mit frühen Automobilen erreichbar. Besonders das britische Blackpool wurde bald auch für Arbeiterfamilien zum bezahlbaren Urlaubsziel am Meer, das Vergnügungen wie ein elektrisches Theater, ein Riesenrad und einen Aussichtsturm bereithielt.
Orte wie Scarborough, Brighton und Blackpool in Großbritannien dienten auch bald als Inspiration für Kur- und Seebäder in Deutschland, allen voran Heiligendamm, das bereits im 18. Jahrhundert den Kurbetrieb aufnahm, und die Insel Norderney, sowie in Frankreich, den Niederlanden, im Süden Skandinaviens und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Nordamerika und Australien. Der Strand, einst ein wilder Ort, der die letzte Grenze zum unberechenbaren Meer darstellte, war vollends kommerzialisiert worden und jetzt ein Ort, an dem Mode, Trends, Luxus und Standesdünkel wichtiger waren als kaum woanders. Doch das Meer war auch ein Ort von Freizeit, Freude und unbeschwerter Sommerwochen geworden, ein Rückzugsort aus der geschäftigen Stadt und dem Alltag.
Für die Menschen, deren Familien schon seit Generationen an der Küste und mit dem Meer lebten, bedeutete der neue Tourismus jedoch nicht nur positives. Zwar wurde eine neue, lukrative Einnahmequelle geschaffen, die unter anderem Leuchttürme, Deiche und andere Schutzmaßnahmen vor Sturmfluten oder Havarien vor der Küste, die noch um 1800 sehr häufig waren, möglich machten, er bedeutete jedoch auch das langsame Ende alter Fischerei- und Seefahrt-Gemeinschaften, die seit Jahrhunderten mit dem und vom Meer gelebt hatten. Das trendige Seebad mit all seinen Attraktionen ließ alte Fischerdörfer nach und nach verschwinden und bedeutete für viele Menschen auch den Verlust ihrer Traditionen und Heimat.
Seaside Fashions: Kleidung für den Strand und die Segelyacht
Mit der Entwicklung des Seebads vom Kurort zum mondänen Urlaubsort ab der Mitte des 19. Jahrhunderts rückte natürlich auch die Garderobe, die für einen gelungenen Sommer am Meer notwendig war, in den Mittelpunkt. Mimi Matthews zitiert recht passend aus einem Ladies’ Monthly Magazine von 1869: “[…] dresses to be worn at the Seaside, and at the mansions of our Aristocracy, often surpass those that have been worn in London or Paris, during the height of the Season.” War der Sommerurlaub auch zur Entspannung gedacht, riss auch hier das soziale Geltungsbedürfnis von Adel und aufstrebendem Bürgertum nicht ab, sondern steigerte sich beinahe noch in neue Höhen. Wer etwas auf sich hielt und seinen Status auch im Urlaub demonstrieren wollte, brauchte eine passende Garderobe.
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Zu Beginn des Jahrhunderts trug man am Meer jedoch noch “gewöhnliche” Sommermode: Leichte Kleider aus Leinen oder Musselin in hellen Farben. Ab den 1860er Jahren kristallisierte sich jedoch eine eigene Form von “seaside dress” heraus. Natürlich erfüllte es alle Anforderungen an die modische Linie und die Moralvorstellungen seiner Epoche, zeichnete sich jedoch trotzdem durch seine Leichtigkeit und seinen hohen Tragekomfort aus. Das “Strandkleid” sitzt lockerer und ist schlichter als normale Alltagsmode und meist in hellen, maritimen Farben wie hellblau, malvenfarben und vor allem Weißtönen gehalten. Es kann Schärpen oder Borten, meist in schwarz oder rot, oder schlichte, sommerliche Drucke aufweisen.
Auch die “seaside fashion” geht im Lauf der Jahrzehnte mit der Mode, behält ihre luftigen, sommerlichen Charakteristika aber immer bei. So sind auch Küstenkleider der 1870er, im Einklang mit den allgemeinen Veränderungen der Mode in dieser Zeit, verspielt und manchmal beinahe drollig mit hellen Blumen- und Fruchtdrucken, doch der lockere Sitz und der Charakter als Sommerkleid aus leichter Baumwolle (vor allem Piqué), Leinen, Barege oder Musselin bleiben erhalten. Das Küstenkleid soll ein modisches Statussymbol sein, doch es soll auch an heißen Tagen am Strand und auf der Promenade getragen werden können. Wichtige Accessoires sind mit Sommerblumen oder Muscheln dekorierte Strohhüte und helle Sonnenschirme.
Im Verlauf der 1880er finden Elemente von Marine- und Matrosenuniformen in die “seaside fashion”, allen voran der Matrosenkragen. Dieser war für Kinderkleidung bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts sehr beliebt. Auch die Matrosenbluse, die wie der Name schon sagt der typischen Uniform eines Matrosen nachempfunden ist, wird besonders in den 1890er Jahren in der Küstengarderobe zum Must Have und schmückt nicht nur Küstenkleider, sondern auch spezielle Segelkleider wie das unten in der Mitte: In Frankreich hergestellt, gehörte es der neu verheirateten Natalie Brown, die es 1897 auf der Segelyacht Ballymena ihres Mannes Nicholas für einen Törn vor der New Yorker Küste trug. Am Kragen ist das Emblem des New York Yacht Clubs zu sehen.

Wurde die “seaside fashion” bis ca. 1880 überwiegend zum Flanieren am Strand und auf der Promenade getragen, deutet der letzte Absatz schon an, dass sich auch die Freizeitbeschäftigungen an der Küste in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts veränderten. Der Anspruch an “seaside fashion” luftig und komfortabel zu sein blieb bestehen, doch nun bekam sie auch einen sportlichen Charakter, denn in ihr wurde jetzt nicht nur auch gesegelt, sondern auch Tennis gespielt, sowie andere neue, trendige Sportarten ausprobiert. Das neue Frauenbild des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts öffnete Spaß und Bewegung an der frischen Luft auch für Frauen, besonders im Sommerurlaub, und das spiegelt sich auch in der Kleidung.
Für die Herrenkleidung gelten ganz ähnliche Regeln: Getragen wurden modisch geschnittene Anzüge aus leichten Stoffen, vor allem grober gewebte und deshalb luftdurchlässigere Sommerwollen, in hellen, schlichten Farben von Weiß bis Hellbraun oder in maritimem Dunkelblau, besonders beim Segeln. Auch hier gilt: Modische, aber legere Kleidung, in der auch an heißen Tagen Bewegung möglich ist, ist das A und O. In den 1890er Jahren wird zudem der “Boater” beliebt, natürlich benannt nach seiner Beliebtheit beim Segeln und im Sommerurlaub: Es handelt sich um einen Strohhut mit flacher Krone und Krempe, der meist mit einem buntem Hutband geschmückt ist. Typische Segel- und Küsten-Looks der 1890er Jahre sind auf dem Gemälde “Auf der Segelyacht Namouna” von Julius LeBlanc Stewart zu sehen.
Diese Art der “seaside fashion”, in der nicht nur auf der Promenade und am Strand spaziert wird, sondern auch gesegelt, Tennis gespielt und vieles mehr, zieht sich auch durch die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg (1914 - 1918) bedeutet für viele Menschen, wenn auch nicht für alle, einen abrupten Stopp des alljährlichen Sommerurlaubs am Meer, doch in den 1920ern Jahren kehrt das Seebad mit neuen Strandmoden, neuer Urlaubskultur und neuen Freizeitbeschäftigungen zu alter Form zurück. Auch heute noch gehört Urlaub am Meer für viele zum Sommer dazu, auch, wenn die spezielle Küstenkleidung aus der Mode gekommen ist.
Ich hoffe, dieser Ausflug in die Geschichte des Strandurlaubs und seiner ganz speziellen Kleidung hat euch gefallen. In diesem Text steckt viel Zeit und Recherche. Falls er dir bei deinen eigenen Recherchen weitergeholfen hat, würde ich mich über eine Nennung als Quelle sehr freuen.
Quellen:
Blei, Daniela: Inventing the Beach. The Unnatural History of a Natural Place. In: Smithonian Magazine, Juni 2016.
Corbin, Alain: The Lure of the Sea. The Discovery of the Seaside in the Western World, 1750-1840. 1995.
Hannavy, John: The English Seaside in Victorian and Edwardian Times. 2003.
Matthews, Mimi: A Victorian Lady's Guide to Fashion and Beauty. 2018.