Das Moralverständnis des 19. Jahrhunderts setzt lange Ärmel und Röcke, bedeckte Ausschnitte und Kopfbedeckungen auch im Sommer voraus. Deshalb ist die Frage danach, wie man damals das heiße Wetter ausgehalten hat, in Zeiten von Shorts und Tanktop auch völlig verständlich, sollte einen jedoch nicht zu dem Fehlschluss führen, die Menschen des 19. Jahrhunderts müssten unter der Hitze in all der Kleidung den ganzen Sommer lang gelitten haben. Denn von einem gelungenen Sommer im 19. Jahrhundert könnte das nicht weiter entfernt sein.
Besonders in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gehörten für viele Menschen bereits Urlaub, vor allem am Meer, Ausflüge in die Natur und Sommerpartys zur warmen Jahreszeit dazu. In den letzten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts war die Sommerreise an die Küste längst nicht mehr nur für die Reichsten der Gesellschaft bezahlbar. Während diese infolge der Revolution im Schiffs- und Eisenbahnverkehr mittlerweile weite Sommerreisen nach Südfrankreich, Italien oder gar per Kreuzfahrtschiff nach Indien antraten, besuchten das aufstrebende Bürgertum und auch immer mehr Arbeiterfamilien die mondänen Seebäder entlang der heimischen Küsten. Aber dazu bald mehr in einem eigenen Beitrag.
Sommerkleidung: In Baumwolle kühl durch den Sommer
Heute soll es um den Sommer „zuhause“ gehen, vor allem natürlich um die Kleidung, die den Sommer im 19. Jahrhundert ausmacht. Ein geeignetes Sommerkleid besteht aus dünner Baumwolle, Musselin, leichter Seide, oder auch nur aus hauchdünner Gaze, die über blickdichte Unterkleider getragen wird. Helle, fröhliche Farben sind ein Muss. Besonders Weißtöne ziehen sich durch die Sommergarderobe des gesamten Jahrhunderts, oft simpel bedruckt oder bestickt. Als die Mode um 1870 im Allgemeinen verspielter wird, zeichnet sich das auch in der Sommerkleidung ab. Must-Have-Accessoires sind leichte, helle Sonnenschirme, sowie Strohhauben und später im Jahrhundert -hüte, die auch in der prallen Sonne Schatten spenden.
“Glücklich ist die Frau, die sagen kann, sie besitzt viele Baumwollkleider für den Sommer, denn so kann sie sicher sein, immer die gut angezogene Frau zu sein. […] Leinen, gestreifter Piqué […], Gingham und Batist sind alle Favoriten. […] Die vollen Ärmel und dekorierten Mieder sind beim Baumwollkleid genauso modisch, wie bei solchen aus teurerem Material; hübsches Aussehen und Zierlichkeit sind ihre besondere Eigenschaft.” - Isabel A. Mallon, “Ladies’ Home Journal”, Juni 1891
Auf unnötige Lagen Unterwäsche wird im Sommer verzichtet: Chemise, Korsett, ein Unterrock, Unterhosen und Strümpfe reichen aus. Während das immer noch deutlich mehr Kleidung ist, als wir heute an einem heißen Sommertag tragen würden, kommt es im 19. Jahrhundert viel mehr auf das Material an, als auf die Menge: Während Kleidung heute oft aus synthetischen Stoffen gemacht ist, in denen man deutlich schneller ins Schwitzen gerät, sind die natürlichen Leinen- und Baumwollstoffe des 19. Jahrhunderts besonders atmungsaktiv und haben einen kühlenden Effekt. Das macht das dünne Baumwollsommerkleid der Epoche also nicht zwingend zu einer heißeren Angelegenheit als ein modernes Sommerkleid aus synthetischen Stoffen.
Das gilt übrigens nicht nur für die Damenmode der Epoche. Auch die Herrenmode verzichtete im Sommer nicht auf lange Hosen, Hemd, Weste und Jackett mit langem Ärmel. Einzig das Jackett durfte unter Freund*innen ruhig ausgezogen werden, Weste, Halsbinde oder Kragen abzulegen kam jedoch auch an einem heißen Tag nicht in Frage. Sommeranzüge sind ebenfalls aus leichten, atmungsaktiven Stoffen, vor allem aus Leinen und Baumwolle, und tagsüber in schlichten, hellen Farben gehalten, vor allem in Weißtönen, Beige, Grau oder Hellbraun. Ein sehr beliebter Stoff für Sommerkleidung aller Art war eine Kammwolle mit geringer Fadendichte, die besonders luftdurchlässig ist und kühl auf der Haut liegt.

Ein sicherlich wichtiger Faktor ist zudem, dass die Sommer im 19. Jahrhundert selten so heiß wurden, wie es heute mittlerweile normal ist. Temperaturen um die 20° bis 25° und regenreiche Perioden besonders im Spätsommer waren keine Seltenheit. So erreichte der Juli 1885 in Berlin zum Beispiel nur selten überhaupt die 20-Grad-Marke. An einem glühend heißen Tag mit 30° im Schatten ist jedem warm, damals und heute, doch während diese Hitzewellen unsere Sommer mittlerweile prägen, waren sie im 19. Jahrhundert deutlich seltener, was auch die Sommerkleidung der Epoche noch einmal in einen ganz anderen Kontext rückt.
Stiegen die Temperaturen jedoch auf 25° oder gar mehr an, trieb es die Menschen des 19. Jahrhunderts überwiegend nach draußen. Wer die Möglichkeit hatte, verreiste im Sommer, entweder auf den eigenen Landsitz, oder in den Urlaub. Blieb man in der Stadt, waren die Lieblingsplätze kaum andere als heute: Der eigene Garten und die Parkanlagen der Städte, die im Verlauf der Industrialisierung als “grüne Lungen” urbaner Zentren einen sehr hohen Stellenwert einnahmen. Hier traf man seine Freund*innen zu Spaziergängen, Krocketspielen oder Bootsausflügen auf Seen und Flüssen, aber vor allem zu informellen Picknicks, bei denen kühle Limonaden und Erdbeeren mit Sahne nicht fehlen durften.
Tennis im Korsett?: Der Trendsport der Belle Époque

Während Krocket das Trendspiel der Mitte des 19. Jahrhunderts war, wurde es in den 1870er Jahren von einem neuen, aufregenderen Spiel abgelöst: Tennis. Genau wie Krocket konnte und sollte Tennis von allen Geschlechtern gespielt werden und wurde deshalb zum beliebten Partyspiel an warmen Sommertagen. Überall in Europa und Nordamerika eröffneten Tennisclubs und -plätze, doch sehr bald konnte man Tennissets - Netz, Schläger, Bälle und Regelbuch - auch für den eigenen Garten kaufen, wenn man das nötige Kleingeld besaß. Auf diese Weise wurde das Spiel bald ein Muss auf jeder Gartenparty oder im Hotelurlaub an der Küste, wo jedes Hotel, das etwas auf sich hielt, bald über einen Tennisplatz verfügte.
“Maud trug ihren weißen Hut und sah, in ein hübsches rosa Kleid gehüllt, das geschmackvoll mit Baumwollsamt in einem dunkleren Ton verziert war, so charmant aus, wie je eine Spielerin, die einen Tennisschläger gehalten hatte, ausgesehen hatte. […] Meine kleine Cousine in dunkelblauem Jersey, von dem sie bekräftigte, dass es zum Spielen das bequemste war, flitzte hierhin und dorthin, wie der Kobold, der sie war, und verfehlte kaum einen Ball.” The Girl’s Own Paper, 1882.4
Auf Gartenpartys oder im Urlaub spielten die meisten Menschen Tennis in ihrer alltäglichen Sommerkleidung. Auch hier sollte man nicht den Fehler machen, davon auszugehen, dass die “unpraktische” Damenkleidung das Spiel behinderte. Die Menschen des 19. Jahrhunderts waren an ihre Kleidung gewohnt und hätte das Spielen in Sommerkleid, Korsett und co. keinen Spaß gemacht, sie hätten es wohl nicht so eifrig getan. Auch im 19. Jahrhundert gab es zum Beispiel geringer strukturierte, flexiblere Sommer- und Sportkorsetts aus leichteren Stoffen, so wie es heute Sport-BHs gibt, und während Shorts und T-Shirt natürlich bequemere Tenniskleidung sind, macht die Kleidung des späteren 19. Jahrhunderts das Spiel keineswegs unbequem oder gar unmöglich.

Als das Spiel Mitte der 1880er immer beliebter wurde, entwickelte sich nach und nach eine eigene Sport- und Tenniskleidung. Diese erfüllte alle modischen und moralischen Anforderungen an Damenkleidung, verfügte aber über einen kürzeren Rock, der über dem Knöchel endete, und verzichtete meist (aber nicht immer, je nach Wunsch der Trägerin) auf die damals beliebte Tournüre. Diese Entwicklung fällt mit einem neuen Frauenbild zusammen, das sich ab den 1870er Jahren entwickelt, und sportliche Frauen nicht nur akzeptiert, sondern bald idealisiert. Tennis, Radfahren und Schwimmen gehörten auch für Frauen spätestens ab den 1880er Jahren zum Sommer und zum Leben dazu, und das nicht nur in der Freizeit.
“Ich versorgte mich mit einem Paar Schuhe […] und erwähnte dem Verkäufer gegenüber, dass sie auf Asphalt getragen werden sollten. Er empfahl solche mit roten Gummisohlen, die, so sagte er, für Asphaltplätze gedacht waren. Una riet mir in eine hübsche Schürze mit Taschen für die Bälle zu investieren.” The Girl’s Own Paper, 1882.4
1884 wurde die Britin Maud Watson die erste weibliche Gewinnerin der Wimbledon-Championships, die seit 1877 jährlich in London abgehalten werden. Sie verteidigte ihren Titel 1885, musste ihn jedoch 1886 an Blanche Bingley abtreten, die den Titel bis 1900 noch fünf Mal holte. Beide Frauen entstammten dem mittleren Bürgertum, das Frauen in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch ungewöhnliche Karrieren zugänglich machte, die noch einige Jahre zuvor als unmöglich gegolten hätten. Die Gesellschaft von Europa und Nordamerika steht in dieser Zeit radikal im Umbruch und das zeichnet sich nicht nur in der Politik ab, sondern auch ganz alltäglich in der Kleidung oder in Sport- und Sommertrends.
Die Gartenparty: Das Event des Sommers
Schon 1880 gehört Tennis zumindest in Großbritannien jedoch auch längst zu jeder gelungenen Gartenparty, ein Trend, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch in Nordamerika und auf dem Kontinent ankommt. Laut dem anonym veröffentlichten Ratgeber “Party-giving on every scale” von 1880 ist die Gartenparty eine eindrucksvolle, aber kostengünstige Möglichkeit viele Menschen auf einmal zu unterhalten. Im Normalfall findet die Gartenparty am Nachmittag zwischen sechzehn und neunzehn Uhr statt, kann sich aber, wenn sie gut läuft, bis in die Nacht hineinziehen. Dann wird der Garten mit Papierlampions und bunten Kerzengläsern erleuchtet. Getragen wird keine formelle Garderobe, sondern zum Anlass passende Sommerkleidung.
Neben Spielen wie Tennis und Krocket gehört besonders im späteren 19. Jahrhundert auch Musik und Tanz zu einer gelungenen Gartenparty. Das Buffet, entweder im Haus serviert oder unter einem Pavillon, hält meist kalte Speisen wie Salate, Früchte oder Eis bereit. Dazu werden Tee, Kaffee, Limonade und Claret angeboten. Beinahe alle zeitgenössischen Anleitungen warnen jedoch davor, die Gesellschaft sich selbst zu überlassen, denn eine Party, auf der Langeweile aufkommt, kann dem eigenen Ruf als Gastgeber*in erheblich schaden, egal wie groß und schön der Garten ist. Abhilfe schaffen Musikgruppen, Schausteller*innen oder das Bereitstellen von Instrumenten oder Kunstutensilien für die Gäst*innen.
“Um jeden Preis muss irgendeine Art von Programm arrangiert werden, denn alles ist besser, als wenn der Garten voller melancholischer Gruppen von Möchtegern-Feriengästen ist, zwischen die hier und da ein unglückliches Individuum gestreut ist, das plötzlich eine intensive Vorliebe für das Studium der Botanik entwickelt hat.” Phillis Brown, The Girl’s Own Paper, Summer Quiet, 1883
Der Sommer ist also auch im 19. Jahrhundert eine fröhliche Jahreszeit. Im Verlauf der Industrialisierung, als die Städte lauter und schmutziger wurden, wuchs in den Menschen der Wunsch nach unberührter Natur als Rückzugsort, der in Gärten und großen Stadtparks umgesetzt wurde. Besonders im Sommer, nach Ende der geschäftigen Ballsaison, spielte sich die alltägliche Freizeit vor allem hier ab, ob eine Gartenparty mit Tennis oder ein Picknick im Park abgehalten wurden, im eigenen Garten spaziert, oder einfach in der Natur gelesen oder ausgeruht wurde.
In diesem Beitrag steckt viel Zeit und Mühe. Falls du ihn für deine eigenen Recherchen verwendest, würdest du mir mit einer Nennung als Quelle sehr aushelfen.
Quellen:
Anonym: Party-giving on Every Scale; or The Cost of Entertainments. 1880.
Anonym: How I Learned to Play Lawn Tennis. In: The Girl's Own Paper, 07. Oktober 1882 & 14. Oktober 1882.
Browne, Phillis: Garden Parties, And How to Manage Them. In: The Girl’s Own Paper, Sommerausgabe “Summer Quiet”, 1883.
Cox, Abby: How Hot Are Victorian Corsets & Clothes? Using *Science* to Bust Historical Clothing Myths. 13.09.2020. (Youtube)
Matthews, Mimi: A Victorian Lady's Guide to Fashion and Beauty. 2018.
Morley, Gary: 125 Years of Wimbledon. From Birth of Lawn Tennis to Modern Marvels. CNN, 22. Juni 2011. (Zuletzt aufgerufen am 11.06.2023.)
Parratt, Cartriona M.: Athletic "Womanhood". Exploring Sources for Female Sport in Victorian and Edwardian England. In: Journal of Sport History, Vol. 16. 2. 1989. S. 140-157.
Pitcher, Izabella: Dressing up for a Game of Tennis, ca. 1885. 02.06.2020. (Youtube)
Ladies’ Home Journal, Juni 1891.